Baisingen Friedhof 154.jpg (62551 Byte)  Segnende Hände der Kohanim auf einem Grabstein in Baisingen


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Giessen (Hessen)
Jüdische Geschichte / Synagoge nach 1945

Übersicht:

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Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde         
    
Nach 1945 sind nur wenige Mitglieder der früheren jüdischen Gemeinde nach Gießen zurückgekehrt. Nur einzelne der in der Umgebung nach 1945 vorübergehend lebenden jüdischen Displaced Persons (Flüchtlinge aus Osteuropa) blieben in der Stadt.  Unter den wenigen zurückgekehrten Überlebenden war der am 23. Mai 1953 verstorbene Händler Salomon Bär. Er war 1853 geboren und am 12. Oktober 1942 deportiert worden. 1950 wurden etwa 20 jüdische Einwohner in Gießen gezählt, im Dezember 1966 waren es etwa 24 Personen (jüdische Familien) in Gießen. Die meisten von ihnen waren als Gastwirte tätig. Mehrere von ihnen waren schon damals aus Russland zugezogen, einer stammte aus Israel. Ein eigener Betraum wurde noch nicht eingerichtet. An den Feiertagen wurden die Gottesdienste in Bad Nauheim besucht.   
  
Erst seit Ende der 1970er-Jahre kam es zu einem neuen Aufleben einer jüdischen Gemeinde in der Stadt. Im Frühjahr 1978 wurde auf Grund einer Initiative von Prof. Jakob Altaras (geb. 1918 in Split, Kroatien, seit 1966 an der Universitätsklinik in Gießen) eine Jüdische Gemeinde Gießen zusammen mit damals nur 26 Mitgliedern neu gegründet. Durch Zuwanderung vor allem aus den ehemaligen GUS-Staaten nahm in den 1990er-Jahren die Zahl der Gemeindeglieder zu. Prof. Altaras wurde der erste Vorsitzende der neuen Jüdischen Gemeinde in Gießen. Er starb am 6. Dezember 2001. Nach seinem Tod übernahm seine Frau, Dr. Thea Altaras (geb. 1924 in Zagreb; Architektin) den Vorsitz der Gemeinde. Sie starb am 28. September 2004. 1995 wurde ein jüdisches Gemeindezentrum mit Synagoge, Räumen für den Religionsunterricht und das Gemeindeleben sowie einem rituellen Bad (Mikwe) eingeweiht (vgl. unten).      

2006 gehörten der jüdischen Kultusgemeinde in Gießen etwa 400 Personen an. 2008 konnte das 30-jährige Bestehen der neuen Gemeinde gefeiert werden. 2011 lag die Mitgliederzahl bei 382 Personen. Das jüdische Gemeindeleben ist von der Arbeit zahlreicher Gruppen geprägt (Seniorenclub, Bastelgruppe, Religions- und Sprachunterricht, Kindergruppe, Tanzgruppe, Frauengruppe u.a.m.). Im Frühjahr 2018 konnte das 40-jährige Bestehen der Jüdischen Gemeinde gefeiert werden.  
 
1. Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde war seit August 2009 - damals in Nachfolge des nach Frankfurt verzogenen Mikhail Litvak - Dr. Gabriel Nick. Heutiger Vorsitzender (Stand: Mai 2018) ist Dow Aviv, der bereits seit August 2009 stellvertretender Vorsitzender war.    
     
     
     
Zur Geschichte der Synagoge              
    
Nachdem 1978 eine Jüdische Gemeinde wieder begründet worden war, beschloss der Gießener Magistrat im folgenden Jahr, die Gemeinde finanziell zu unterstützen und ihr beim Neubau einer Synagoge ein Grundstück innerhalb des Anlagenringes zu überschreiben. Es brauchte freilich etliche Jahre, bis ein jüdisches Gemeindezentrum mit Synagoge verwirklicht werden konnte. Zunächst wurden die Gottesdienste in einer Mietwohnung abgehalten, zunächst in der Marburger, dann in der Dammstraße, wo jeweils ein Betraum und ein Büro der Gemeinde eingerichtet waren.
 
Ende der 1980er-Jahre entschied sich die Jüdische Gemeinde für eine Umsetzung der ehemaligen Synagoge von Wohra nach Gießen, um das Gebäude wieder als Synagoge verwenden zu können. Dazu gaben auch die wenigen Überlebenden der Wohraer jüdischen Gemeinde ihre Zustimmung. Dr. Thea Altaras leitete als Architektin die Um- und Neubauarbeiten. Am 27./28. August 1995 wurde die ehemalige Wohraer und nun neue Gießener Synagoge zusammen mit einem jüdischen Gemeindezentrum feierlich eingeweiht. Bei der Einweihung waren der damalige Landesrabbiner Dr. Henry Brandt aus Hannover sowie höchste Repräsentanten der evangelischen und der katholischen Kirche sowie der Muslime anwesend. Aus der Gießener Partnerstadt Netanya (Israel) war der spätere Gießener Ehrenbürger Dr. Avraham Ben Menachem erschienen. Die Synagoge in Gießen trägt den Namen "Beith-Jaakov-Synagoge".   
  
  
Bitte um Spenden für den Synagogenbauverein Gießen   

Die jüdische Gemeinde trägt immer noch (Stand: April 2013) an der Baulast für die 1995 eingeweihte Synagoge und das Gemeindezentrum. Es gibt einen Synagogenbauverein, der für Spenden wirbt, informiert und für ein politisches und interreligiöses Verständnis arbeitet.  
Spenden für diese wichtige Arbeit des Vereins können überwiesen werden auf das 
Konto der Synagogenbauvereins Gießen Nr. 200 515 888 bei der Sparkasse Gießen   

  
  
Adresse/Standort der Synagoge   Burggraben 4-6       
  
Kontakt: Jüdische Gemeinde Giessen K.d.ö.R.  Burggraben 6  35390 Giessen   Tel. 0641/932890    Fax 0641/9328925   
E-Mail
info[et]jg-giessen.de oder juedischegemeinde-giessen[et]googlemail.de    
  
  
Fotos  
(Foto links: Titelbild der Dokumentation zur Einweihung der Synagoge s.u.; Innenansicht: Website der Jüdischen Gemeinde Gießen)  

Die ehemalige Wohraer 
Synagoge in Gießen
  
Giessen Synagoge n151.jpg (96407 Byte) Wohra Synagoge 120.jpg (50153 Byte)
  Am Tag der Einweihung am 
27. August 1995 
 Blick von Osten (mit kleinem Vorbau 
für den Toraschrein im Inneren) 
 
 Innenansicht   Giessen Synagoge neu 190.jpg (51379 Byte)
 

   

Berichte   

August 1995: Zur Einweihung der neuen Gießener Synagoge  
Artikel von Peter Scherer in "Welt online" von 26. August 1995 (Artikel): "'Das jüdische Volk lebt - überall, auch hier in Deutschland' 
Nach 57 Jahren hält heute die Thora Einzug in die neue Gießener Synagoge

Am hohen Torbogen, der den Zugang zur neu errichteten alten Fachwerksynagoge in der mittelhessischen Universitätsstadt Gießen überwölbt, bringen zwei Bauarbeiter gerade hebräische Metallbuchstaben an. Halbrund wölbt sich die Inschrift. Professor Jakob Altaras, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Gießen, übersetzt: "Gottes Haus betreten wir mit Gefühl." 
Gefühle sind übermächtig in diesen Tagen, auch bei den eigens zu den an diesem Wochenende stattfindenden Einweihungsfeierlichkeiten aus Israel und anderen Ländern zurückgekehrten ehemaligen Gießener Juden: Trauer, Schmerz und Tränen erkennt, wer hinsieht. Die Bilder der Vergangenheit haben nichts von ihrem Schrecken verloren. Wenn am Sonntag die Thora festlich Einzug halten und nach 57jähriger Dunkelheit erstmals wieder das Ewige Licht in einer Lampe im Innenraum leuchten wird, wird sich der Spruch über dem Synagogeneingang tausendfach erfüllen. Auf einer Bronzetafel im Synagogenvorraum steht: "Wir gedenken der vertriebenen, verschollenen und ermordeten Juden." Dina Kunze, eine israelische Künstlerin, hat diese und eine zweite Tafel gestaltet. 
In Gießen gab es bis zur Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 drei jüdische Gemeinden mit drei Synagogen: in der Südanlage, in der Steinstraße und im Stadtteil Wieseck. Von ihren 1265 Mitgliedern wurden vom Nazi-Regime 236 verjagt, verschleppt, ermordet. Das Schicksal von 530 Juden blieb bis heute unaufgeklärt. 1942 lebte in Gießen kein Jude mehr. 
Noch in dieser Woche gehörten das im Gießener Zentrum - im Schatten eines uralten Kastanienbaumes, in unmittelbarer Nähe von Stadtkirchenturm und Pankratiuskapelle - errichtete jüdische Gotteshaus und das neue Gemeindezentrum den Handwerkern. Die letzten Fliesen wurden gelegt, Sägen kreischten, Funken sprühten. Jakob Altaras führt durch die Räume: "Das ist eine von der Zerstörung gerettete Synagoge. Ihr weiteres Leben bedeutet die weitere Existenz des jüdischen Lebens in Deutschland. Und sie unterscheidet sich von Hunderten Synagogen auf dieser Welt." Die Gebäudeteile mit Gesellschaftsraum, Küchen, Bibliothek, Unterrichtsräumen, Hausmeisterwohnung, Studentenzimmern und einem Ritualbad sind so angeordnet, daß sie einen Halbkreis um das religiöse Zentrum, die Synagoge, bilden. 
Was macht das von seinen Ausmaßen eher bescheiden wirkende jüdische Bethaus so einzigartig? Zum einen der Umstand, dass es ursprünglich Mitte des 19. Jahrhunderts in dem Dörfchen Wohra im Marburger Land errichtet worden war, dort im Frühjahr 1992 behutsam Balken für Balken und Sandstein für Sandstein abgetragen, restauriert und schließlich in Gießen wieder aufgebaut worden ist. Zum anderen die Tatsache, dass die heute wieder rund 230 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde von Gießen mit der erneuten Nutzung der Synagoge bewusst an die Tradition des einst blühenden hessischen Landjudentums anknüpfen will. Ohne die wissenschaftliche Arbeit der Architektin und Bauhistorikerin Thea Altaras wäre es nie zu diesem Projekt gekommen, das ausdrücklich auch den Segen namhafter Rabbiner aus dem In- und Ausland gefunden hat. Für ihre "hervorragenden Verdienste um Verständigung und Verständnis zwischen den Menschen" hat ihr der Magistrat der Stadt Gießen jetzt die Hedwig-Burgheim-Medaille verliehen. 
Frau Altaras hat eine akribische Bestandsaufnahme der "Synagogen in Hessen" erstellt, aus der dann die Idee entstand, die ehemalige Synagoge aus Wohra "vor dem Schicksal so vieler anderer zu bewahren". Stellvertretend für die verbrannten, zerstörten und geschändeten Synagogen sollte sie ein neues Leben erhalten - im Gegensatz zu der Vielzahl ehemaliger jüdischer Gebetshäuser, die zweckentfremdet, umgebaut, baulich bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden und heute in Dörfern und Kleinstädten als Wohnhäuser, Scheunen, Abstellräume oder Gaststätten dienen.
In der kleinen Synagoge ist es plötzlich ganz still geworden. Professor Altaras deutet auf den Thoraschrein. Wie auf ein geheimnisvolles Zeichen hin halten die Handwerker für einen Moment inne. "Die Wiedereröffnung eines jüdischen Gotteshauses in Deutschland zeigt", sagt Altaras sichtbar bewegt, "daß das jüdische Volk lebt. Überall, auch hier in Deutschland." Die Synagoge nennt er ein Geschenk des Landes Hessen, der Stadt Gießen, seiner Gemeinden, kirchlicher Institutionen, aller Parteien, des Synagogenbauvereins, unzähliger Betriebe und Einzelpersonen, die das Bauvorhaben materiell und ideell unterstützt hätten: "Wir Juden sehen darin eine Bestätigung, dass wir in Gießen wieder unsere Heimat gefunden haben."
Die Synagoge soll Gottesdienstbesuchern Geborgenheit und Intimität vermitteln, soll aber nicht nur der Andacht der jüdischen Gemeinde, sondern auch dem Alltagsleben dienen. Als neuer geistig-kultureller Mittelpunkt stelle das Gemeindezentrum in Gießen eine Einladung an alle Bürger der Stadt dar, die mehr über die jüdische Religion, über Geschichte, Traditionen, Kultur und Riten erfahren wollten, sagt Altaras: "Wir wollen Brücken bauen. Die Synagoge ist ein solcher Brückenbau."
Die kommenden hohen Feiertage, das Neujahrsfest Rosch Haschana sowie Jom Kippur, werden die Gießener Juden erstmals nach der Nazi-Barbarei wieder in einem eigenen Gotteshaus begehen können. 'Sehen Sie nur! Sehen Sie sich nur um!' sagt Altaras. 'Dass wir wieder da sind, zeigt doch: Die Nazis haben nicht das letzte Wort gehabt.'"
 
Oktober 2008: 30 Jahre neue Jüdische Gemeinde in Gießen  

Presseartikel: Gießener Anzeiger vom 27. Oktober 2008: "Haben in Gießen zweite Heimat gefunden" - Jüdische Gemeinde feiert 30jähriges Bestehen - Gedenken an Professor Altaras - Mikhail Litvak hält Festansprache (pdf-Datei)  

 
August 2012: 15. Begegnungswoche mit ehemaligen jüdischen Einwohnern der Stadt Gießen  
Presseartikel: Gießener Allgemeine vom 29. August 2012: "An 'unsägliches Leid' in Gießen erinnert.    
 
April 2013: Rückblick - 18 Jahre nach Einweihung der Gießener Synagoge  
Große Erleichterung bei Einweihung (Gießener Anzeiger, 24.04.2013) 
 
Oktober 2017: Feier des Jom Kippur in der Synagoge 
Artikel von E. Pfeiffer im "Gießener Anzeiger" vom 2. Oktober 2017: "Jeder soll Verantwortung tragen.
GIESSEN -
Freitagnachmittag. In den Räumen der Jüdischen Gemeinde liegt Essensgeruch in der Luft. Gerade wird gekocht, die letzten Vorbereitungen laufen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, denn ab Sonnenuntergang wird das jüdische Leben für 25 Stunden nahezu still stehen - Jom Kippur beginnt. 'Jom Kippur ist der wichtigste jüdische Feiertag' weiß Dow Aviv, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Gießen. Er wird stets am zehnten Tag nach dem zweitägigen Neujahrsfest Rosch Haschana gefeiert und auch 'Versöhnungstag' genannt. Denn in den 'zehn Tagen der Umkehr', die zwischen beiden Festen liegen, beten die Gläubigen und bitten für ihre Sünden um Vergebung - und zwar ausnahmslos. 'Ob ich gesündigt habe oder nicht, das kann ich nicht wissen', sagt Aviv. Gott wolle, dass jeder Verantwortung trage und sowohl für die eigenen, als auch die Sünden der anderen um Vergebung bitte. Ein wichtiges Symbol während dieser Zeit der Vergebung ist das 'Schofar', ein Widderhorn, in das hinein geblasen wird. Der dabei entstehende Ton sei einerseits eine 'Aufforderung an die Menschen, Reue zu zeigen und um Vergebung zu bitten' so Aviv. Man glaube jedoch auch daran, dass sich durch den Klang des Horns die Tore des Himmels öffneten und Gott auf seinem Thron die Gebete erhöre. Ebenfalls zu Jom Kippur gehört das Fasten. 25 Stunden lang, von kurz vor Sonnenuntergang am ersten Tag, bis zum Sonnenuntergang am Folgetag, wird gänzlich auf Essen und Trinken verzichtet. Die gemeinsame letzte Mahlzeit vor dem Fastenbeginn sei daher auch eher leicht, damit sie nicht lange im Magen liege. Auch auf Salz und Gewürze werde verzichtet, damit der Durst nicht zu groß wird, erklärt Aviv. In diesem Jahr fällt Jom Kippur auf einen Sabbat, den jüdischen Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet wird. Doch auch sonst kehrt an Jom Kippur Ruhe ein. 'An diesem Tag arbeitet niemand in Israel', sagt der Gemeindevorsitzende. Ausnahmen gebe es nur für Notfälle, zum Beispiel bei der Feuerwehr oder im Krankenhaus. Auch das Militär bleibt einsatzbereit, nachdem Ägypten und Syrien die Ruhe des Feiertags genutzt hatten, um 1973 einen Angriff zu starten, mit dem der Jom-Kippur-Krieg begann. Und während in Israel an diesem Tag auch alle Geschäfte und Restaurants geschlossen bleiben, können Juden in Deutschland für die hohen Feiertage Urlaub beantragen.
Rund 30 Gläubige wurden am Samstag in der Synagoge im Burggraben erwartet. Insgesamt umfasse die Jüdische Gemeinde in Gießen rund 370 Mitglieder. 'Es werden jedoch von Jahr zu Jahr weniger', bedauert Aviv. Denn viele Juden in der Stadt seien bereits weit über 70 Jahre alt. Wer den Weg in die Synagoge gefunden hat, bleibt an Jom Kippur auch fast den ganzen Tag dort - denn so lange dauert der Gottesdienst an diesem besonderen Tag. Während Rosch Haschana und Jom Kippur ist das Gotteshaus weiß geschmückt, auch der Rabbiner kleidet sich von Kopf bis Fuß in weiß und symbolisiert so Reinheit. 'Wenn der Tag vorüber ist, wird traditionell ein Abschlussgebet für Jom Kippur gesprochen' erklärt Aviv. Dann ist auch das Fasten vorbei. Von der Synagoge geht es in den angrenzenden Gemeindesaal, wo gemeinsam gespeist wird. Dann darf das Essen übrigens ordentlich gewürzt sein - damit die Gläubigen nach einem ganzen Tag ohne Flüssigkeit genug trinken."
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Mai 2018: 40 Jahre neue jüdische Gemeinde in Gießen    
Artikel von Burkhard Möllerin der "Gießener Allgemeinen" vom 22. Mai 2018: "Jüdische Gemeinde Gießen feiert mit Stolz und Sorge
In einer Zeit, in der in Deutschland wieder einmal über Antisemitismus diskutiert wird, feiert die 'neue' jüdische Gemeinde Gießen ihren 40. Geburtstag.
Die siebenarmigen Leuchter schimmern matt, die Thorakrone strahlt, Vorsitzender Jakob Altaras und Landesrabbiner Henry Brandt schauen ergriffen. Das am 27. August 1995 bei der Einweihung der Gießener Synagoge im Burggraben entstandene Foto gibt die Stimmung an diesem Tag, der in die Stadtgeschichte eingegangen ist, sehr gut wieder. Mit der Eröffnung der aus Wohra ins Herzen Gießens translozierten Landsynagoge kehrte jüdisches Leben symbolisch endgültig zurück. Die von 60 Personen gegründete Gießener Nachkriegsgemeinde indes bestand zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast 20 Jahren. In diesem Frühjahr feiert sie ihren 40. Geburtstag.
Zuwanderungswelle aus dem Osten. Von Anfang dabei war der heutige Vorsitzende Dow Aviv. 'Zwei Wochen nach der Gründung der Gemeinde kam ich aus Israel zum Studium nach Gießen', erinnert sich der Zahnarzt, der die Gemeinde seit fast zehn Jahren führt. Lange Zeit stand der Gemeinde nur eine Mietwohnung in der Marburger Straße zur Verfügung, die spätestens mit den Wellen jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion zu klein wurde. Den größten Moment ihrer Geschichte – seit der Brandschändung der beiden Synagogen im November 1938 – erlebte die Gemeinde dann im August 1995, als nach langen Diskussionen und Planungen das neue Gemeindezentrum im Burggrabenviertel eingeweiht wurde. Die Idee, die nicht mehr genutzte Fachwerksynagoge nach Gießen zu versetzen, hatte die Architektin und Ehefrau des Vorsitzenden, Thea Altaras.
Die Hälfte der Gemeinde kommt um. 'Es ist eine vor der Zerstörung gerettete Synagoge. Ihr Fortbestand symbolisiert die weitere Existenz jüdischen Lebens in Deutschland. Sie stellt zugleich ein lebendiges Denkmal für das einst bedeutende Landjudentum dar', erklärt der amtierende Vorsitzende Aviv. Er erinnert an die Anfänge jüdischen Lebens im 14. Jahrhundert. Es habe damals nur einige jüdische Familien gegeben. Die Kirche habe immer wieder vergeblich versucht, sie zu bekehren, schließlich seien die Juden der Stadt verwiesen worden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lebten etwa 100 Juden hier; bis etwa 1900 habe sich ihre Zahl verdreifacht. Seit 1887 habe es in Gießen dann sogar zwei jüdische Gemeinden gegeben: die liberale Israelitische Religionsgemeinde mit ihrer Synagoge in der Südanlage und die orthodoxe Israelitische Religionsgesellschaft in der Steinstraße. Im damals eigenständigen Wieseck habe es eine dritte jüdische Gemeinde gegeben. Ihre Mitglieder eingerechnet, lebten in den 1920er Jahren rund 1100 Juden in Gießen, ehe die Entrechtungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten viele dieser Gießener zur Emigration veranlasste, wohl über die Hälfte wurde ermordet.
40 Jahre nach der Gründung der Nachkriegsgemeinde beschreibt Dow Aviv als 'zentrale Aufgabe' die Integration von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion. 'Wir bieten Sprachkurse und Religionsunterricht an und helfen den Menschen, ihre jüdische Wurzeln wieder zu finden und ihren Glauben zu leben, den sie in ihrer Heimat jahrzehntelang nicht ausleben konnten', erläutert Aviv. Gegenwärtig habe die Gemeinde etwa 370 Mitglieder, das Einzugsgebiet erstrecke sich ungefähr auf die Kreise Gießen und Lahn-Dill.
Keine gravierenden Vorfälle. Die heutige Gemeinde dürfe stolz auf das Erreichte sein. Der Blick richte sich gleichzeitig nach vorne, in die Zukunft. 'Das aktuelle jüdische Leben hierzulande ist von Entwicklungen überschattet, die bei vielen Mitgliedern Sorge und Angst hervorrufen', sagt Aviv mit Blick auf antisemitische Attacken andernorts. Gravierende Vorfälle habe es in Gießen zwar noch nicht gegeben, aber es sei schon vorgekommen, dass sich ein angereister Rabbiner auf dem Weg vom Hotel in die Synagoge 'ein paar Bemerkungen anhören musste', wie sich der Vorsitzende ausdrückt.
Die Jüdische Gemeinde Gießen werde sich weiter bemühen, mit den anderen Religionsgemeinschaften im Dialog zu bleiben. Aviv: 'Ich bin davon überzeugt: Je mehr wir von einander wissen und lernen, desto toleranter freundlicher und friedvoller können wir miteinander umgehen.'
Festakt am Mittwoch. Ihr 40-jähriges Bestehen begeht die Jüdische Gemeinde Gießen am Mittwochabend mit einer Feierstunde im Hermann-Levi-Saal des Rathauses am Berliner Platz. Die Eröffnungsrede hält Vorsitzender Dow Aviv, den Festvortrag Prof. Sascha Feuchert, der die Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität leitet. Die Klezmer Tunes werden ein kleines Konzert geben, erwartet werden einige Grußworte. Beginn der Feierstunde ist um 18 Uhr."  
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Weiterer Artikel: Jüdische Gemeinde Gießen vor 40 Jahren von Jakob Altaras gegründet (Gießener Anzeiger, 22.05.2018)   
 
November 2019: Großes Interesse bei Führung in der Synagoge
Artikel in der "Gießener Allgemeinen" vom 11. November 2019: "Großes Interesse an Synagoge
Gießen
(mhi). Bis auf den letzten Platz gefüllt war die Gießener Synagoge am vergangenen Mittwoch, als die Deutsch-Englische Gesellschaft (DEG) zu einer Führung durch das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde mitten im Herzen von Gießen eingeladen hatte. Der DEG-Vorsitzende Lawrence de Donges-Amiss-Amiss bedankte sich für das Interesse und kündigte an, das Angebot zu wiederholen: 'Wir mussten sogar Menschen aus Platzgründen absagen.' Warum der Platz so beschränkt ist in den Räumen, erklärte Dow Aviv, der 1. Vorsitzende der jüdischen Gemeinde und auch, warum im Gießener Burggraben trotz der Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht 1938 ein jüdisches Gotteshaus steht.
Einen großen Anteil daran hatte Prof. Jakob Altaras, ein Radiologe, der aus Jugoslawien geflüchtet und am Universitätsklinikum tätig war. 1978 gründete er eine jüdische Gemeinde in Gießen, mit anfangs 26 Juden - es gab mehr, aber bereits damals wollten sich nicht alle öffentlich zu ihrem Glauben bekennen. Insbesondere seiner Frau Thea Altaras, einer Architektin, ist es zu verdanken, dass die Fachwerksynagoge aus dem Städtchen Wohra 1995 umgesetzt und in Gießen wiederaufgebaut wurde. Die Räumlichkeiten waren für die 60 bis 70 Mitglieder große Gemeinde als 'Ort der Versammlung', so die deutsche Übersetzung gedacht. Durch die Auswanderungswelle von Juden aus Russland seit den 1990er Jahren ist die Zahl der Gemeindeglieder auf heute 370 Mitglieder angewachsen - und mit ihr die Herausforderungen. Die Gelegenheit zu Fragen wurde rege von den Besuchern der DEG und dem Deutsch-Amerikanischen Klub 'Die Brücke' genutzt. Alle männlichen Besucher hatten für den Aufenthalt in der Synagoge eine Kippa, die runde jüdische Kopfbedeckung, erhalten. 'Warum tragen Juden in der Öffentlichkeit so selten ihre Kippa?', wollte eine Frau wissen. Die Angst vieler Juden in Zeiten von Anschlägen und Vandalismus sprach Aviv offen an und thematisierte auch den Unterricht der Kinder: sie würden in der Schule Ethik besuchen, um nicht als Juden erkannt zu werden, obwohl sie sich zugunsten von Religionsunterricht in der Synagoge eigentlich befreien lassen dürften. Auch die jüdischen Traditionen rund um den Schabbat wurden thematisiert, so das Verbot von Arbeit und die Trennung von Frauen und Männer im Gotteshaus beim wöchentlichen Gottesdienst. Bei der Führung musste diese Trennung nicht eingehalten werden, das lebhafte Miteinander zeugte vom regen Interesse an der jüdischen Kultur und ihren Besonderheiten; auch so profane Dinge wie der Umgang mit einer alternden Gemeinde, der auch christliche Gemeinden betrifft, wurde thematisiert. Aviv: 'Wir müssen unsere Mitglieder nicht nur in Deutschland integrieren, sondern immer mehr zu Hause besuchen, weil sie nicht mehr in die Synagoge kommen können.' Im Anschluss an die Führung berichtete Philipp van Slobbe in einem Lichtbilder-Vortrag über seine Erfahrungen und Eindrücke während seines Freiwilligen Sozialen Jahres im jüdischen Altersheim in Amsterdam."
Link zum Artikel  
  
Artikel von Barbara Czernek im "Gießener Anzeiger" vom 10. November 2019: "Großer Besucherandrang bei Führung durch Synagoge in Gießen
'Der Wiederaufbau war eine verrückte Idee', sagt Dow Aviv. Bei einem Rundgang durch die Jüdische Gemeinde in Gießens erinnerte der Vorsitzende auch an die Anfänge der Synagoge. Zugleich spricht er über Integrationsleistung und judenfeindliche Übergriffe.
GIESSEN -
Gießen'Der Wiederaufbau der Synagoge in Gießen war eine verrückte Idee', sagte Dow Aviv, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Gießens, zu Beginn der Führung durch die Gießener Synagoge. Der Verein 'Die Brücke' und die Deutsch-Englische Gesellschaft Gießen hatten zu dem Besuch eingeladen. Das Interesse war so groß, dass nicht alle Interessierten daran teilnehmen konnten.
Dow Aviv berichtete über die Neugründung der Gemeinde und der Errichtung des jüdischen Gemeindezentrums. Es war die Idee von Thea Altaras und ihrem Mann Prof. Jakob Altaras, eine alte Synagoge auf dem heutigen Gelände wieder aufzubauen. Altaras hatte das Ziel gesehen und dieses gegen alle Widerstände durchgesetzt. Die Synagoge stand in Lohra und war nicht im Krieg zerstört worden. Sie musste auseinandergebaut, wieder zusammengesetzt und restauriert werden. Heute präsentiert sie sich in ihrem ursprünglichen Zustand, mit ihrer ursprünglichen Bestimmung, inmitten des Gemeindezentrums. Bei der Eröffnung hatte die Gemeinde zwischen 60 und 70 Mitglieder, heute sind es etwa 370. 'Wir haben nicht mit einer solchen Erhöhung gerechnet', so Dow Aviv. Diese kam durch den Zuzug jüdischer Mitbürger aus dem Osten in den 1990er Jahren. 'Ab diesem Zeitpunkt mussten wir ein großes Stück an Integrationsarbeit leisten, denn viele sprachen kein Deutsch und hatten seit vielen Jahren ihren Glauben nicht praktizieren können.'
Die Jüdische Gemeinde Gießen zählt zu den orthodoxen Gemeinden. Das bedeutet: Männer und Frauen haben getrennte Plätze. Die Männer sitzen unten, für die Frauen ist die Empore reserviert. Besonders stolz präsentierte Aviv die Thora-Rolle, aus der an jedem Schabbat - nach strengen Regeln - vorgelesen wird. Die Thora selbst ist für sich genommen schon ein Kunstwerk: Sie ist das Heiligste für die Gemeinde und enthält die fünf Bücher Moses. Sie wird nach alter Tradition auf Pergamentbögen und nur mit einem Federkiel und Tinte, ohne weitere Hilfsmittel, geschrieben. 'Die Texte kann man nicht so einfach lesen, denn sie werden ohne Satzzeichen oder Absätze niedergeschrieben', erläutert der Vorsitzende. Eine Textpassage daraus zu lesen, wie dies bei der Bar Mizwa von jedem Jungen verlangt wird, bedarf einer besonderen Vorbereitung. Auch zu judenfeindlichen Übergriffen äußerte sich Dow Aviv. Bisher sei die hiesige Gemeinde verschont geblieben. Ihm sei allerdings auch bekannt, dass sich viele Juden lieber ohne Kippa in der Öffentlichkeit zeigen.
Im zweiten Teil der Informationsveranstaltung berichtete der junge Student Philipp van Slobbe über sein Freiwilliges Soziales Jahr, das er in einem jüdischen Pflegeheim in Amsterdam absolvierte. Van Slobbe wurde durch die 'Aktion Sühnezeichen - Friedensdienste' in die Pflegeeinrichtung Beth Shalom vermittelt. 'Wohnen können dort auch Nicht-Juden, sie müssen jedoch die Regeln des Kaschruts innerhalb des Hauses akzeptieren.' Die meisten Bewohner seien sehr freundschaftlich und offen mit ihm umgegangen. Einige Überlebende des Holocausts hätten ihn aber ihre Abneigung gegenüber Deutschen spüren lassen. Eine Frau sei anfangs sehr reserviert gewesen. Mit der Zeit hätten sie sich angefreundet. Zum Schluss habe sie ihn gebeten, dass seine Eltern sie besuchen sollten. 'Diese sind zwar auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt gekommen, doch das verschwamm in ihrem Gedächtnis', so Philipp van Slobbe. Dieses Treffen habe ihr geholfen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Nach seiner FSJ-Zeit stand er noch bis zu ihrem Tod mit der Frau in Kontakt." 
Link zum Artikel  

   


Links und Literatur

Links: 

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Website der Stadt Gießen  

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Website der Jüdischen Gemeinde Gießen  

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Seite zur jüdischen Gemeinde Gießen in der Website des Zentralrates der Juden in Deutschland 

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Seite zur jüdischen Gemeinde Gießen in der Website des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen     

Literatur:  

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Giessen Synagoge n150.jpg (52896 Byte)Die Synagoge in Giessen. Wiedereröffnung - Planung - Menschen. Hrsg. von der Jüdischen Gemeinde Gießen. Bergauf Verlag Frankfurt/Main 1996.     

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Altaras Lit 020.jpg (28783 Byte)Adriana Altaras: Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie. Kiepenheuer & Witsch Verlag. Gebunden. 272 Seiten. 18,95 €.  
Buchbesprechung von Dagmar Klein in der "Gießener Allgemeinen Zeitung" vom 11. März 2011 (Link zur GAZ): Artikel eingestellt als pdf-Datei.       

    

  

                   
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Stand: 15. Oktober 2013